Schafe scheren in Ostfriesland – Tradition mit Schere und Verstand
In Ostfriesland gehören Schafe zum Landschaftsbild wie der Wind zum Deich. Sie pflegen die Weiden, halten Gräben frei und liefern neben Fleisch vor allem eines: Wolle. Doch damit diese nicht zur Last wird, braucht es regelmäßig die Schur. Was für Außenstehende wie eine ländliche Pflichtaufgabe wirkt, ist in Wahrheit ein Handwerk mit Geschichte, Technik und Verantwortung – und ein wichtiges Kapitel in der ostfriesischen Nutztierhaltung.

Vorher und nachher: Schafe vor und nach der Schur – gut für das Tier, wichtig für die Wolle. ✂️
Warum werden Schafe geschoren?
Schafe müssen geschoren werden, weil ihre Wolle kontinuierlich wächst. Anders als Wildschafe, die ihre Wolle teilweise selbst verlieren, sind Hausschafe auf den Menschen angewiesen. Zu lange Wolle kann zur Belastung werden: Sie speichert Feuchtigkeit, begünstigt Parasiten wie Hautwürmer oder Fliegenmaden und erhöht das Risiko von Hitzestress. Die Schur ist also aktiver Tierschutz. Darüber hinaus wird durch die regelmäßige Schur die Qualität der Wolle verbessert – sie bleibt feiner, gleichmäßiger und leichter zu verarbeiten.
Zudem hat die Schur hygienische Vorteile: Der Blick auf die Haut ist frei, die Klauenpflege lässt sich besser durchführen und das Tier kann sich wieder frei bewegen. Gerade im Sommer wirkt ungeschorene Wolle wie ein Wärmestau, was zu Kreislaufproblemen führen kann. In heißen Sommern ist die Schur damit wortwörtlich lebenswichtig.
Wann ist der richtige Zeitpunkt zum Schafe scheren?
Der richtige Zeitpunkt richtet sich nach Klima, Rasse und Haltung. In Ostfriesland beginnt die Schur meist im späten Frühjahr – etwa ab Mitte Mai bis Anfang Juli. Dann ist das Wetter stabil genug, damit die Tiere nicht frieren, und warm genug, um die Haut nach der Schur vor Auskühlung zu schützen. Ein trockener Tag mit wenig Wind ist ideal – besonders für kleine Rassen wie Ouessantschafe, deren dichte Unterwolle empfindlich auf Wetterumschwünge reagieren kann.
Einige Schafrassen werden ein zweites Mal im Herbst geschoren, besonders wenn sie viel Wolle produzieren oder sich die Qualität dadurch verbessert. Auch Zuchtschafe, die auf Schauen präsentiert werden, werden zu bestimmten Zeitpunkten geschoren, um das Wollwachstum gezielt zu steuern.
Wie läuft eine Schafschur ab? – Technik und Praxis

Die Schur kann mit der Handschere oder elektrisch erfolgen. Die klassische Handschere erfordert große Erfahrung und Körpergefühl. Sie wird heute vor allem bei kleinen Beständen oder aus Traditionsgründen genutzt. Die elektrische Schermaschine ist schneller, ergonomischer und bei größeren Herden Standard.
Vor der Schur werden die Tiere in einem trockenen, sauberen Stall oder Bereich zusammengetrieben. Nasse Wolle darf nicht geschoren werden – sie verstopft die Maschine, verfilzt beim Lagern und ist schlecht zu verarbeiten. Ein geübter Scherer braucht je nach Tier und Technik 2 bis 5 Minuten pro Schaf. Die Tiere werden dabei sicher fixiert, meist in einer sitzenden Position, bei der sie ruhig bleiben. Wichtig ist: kein Druck, keine Hektik, keine Gewalt. Ein ruhiger Scherer ist ein guter Scherer.
Nach der Schur werden kleine Verletzungen – falls sie auftreten – sofort versorgt. Dann geht’s zurück auf die Weide, am besten bei mildem Wetter.
Was passiert mit der Wolle nach der Schur?

Nach der Schur wird die Wolle auf dem Boden ausgebreitet und grob sortiert. Stark verschmutzte, verfilzte oder kotverschmierte Partien (sogenanntes Vlies) werden aussortiert. Der wertvollste Teil ist die Rücken- und Seitenwolle – gleichmäßig, fettig und stabil.
Danach wird die Wolle gewaschen (Entfettung durch Auswaschen des Wollfetts, auch Lanolin genannt), getrocknet und kardiert. Kardieren bedeutet: Die Fasern werden mit speziellen Walzen oder Handkarden in eine Richtung gebracht und voneinander getrennt. Jetzt ist die Wolle spinnfertig. Manche Betriebe machen das selbst, andere geben sie in regionale Spinnereien.
In Ostfriesland gibt es zunehmend Initiativen, die Wolle lokal weiterverarbeiten – zu Garn, Filz, Dämmstoffen oder Kunsthandwerk. Denn: Importwolle und Kunstfaser haben der heimischen Wolle stark zugesetzt. Umso wichtiger, dass wir ihren Wert wieder sichtbar machen.
Was kann man aus Schafwolle machen?

Die Möglichkeiten sind vielfältig. Hier eine Auswahl:
- Kleidung: Pullover, Socken, Mützen – robust, temperaturregulierend, atmungsaktiv
- Heimtextilien: Teppiche, Decken, Kissenfüllungen
- Dämmmaterial: Wolle bindet Feuchtigkeit, wirkt antibakteriell, ist recyclingfähig
- Filzprodukte: Taschen, Hüte, Hausschuhe, Dekoration
- Spielzeug: Strick- und Filztiere, Babydecken
- Kosmetik: Das aus der Wolle gewonnene Lanolin ist Grundlage für viele Cremes
Warum ist Schafe scheren wichtig für das Tierwohl?
Das regelmäßige Scheren ist ein elementarer Teil der artgerechten Schafhaltung. Es verhindert Hitzestress, reduziert das Risiko von Hauterkrankungen und ermöglicht die tierärztliche Kontrolle. Gerade in feuchten Küstenregionen wie Ostfriesland kann zu lange Wolle Pilze und Parasiten begünstigen.
Zudem steigert eine fachgerechte Schur das Wohlbefinden sichtbar: Schafe bewegen sich nach der Schur agiler, ruhen entspannter und nehmen oft besser Futter auf. Nicht zuletzt stärkt der körperliche Kontakt bei der Schur auch die Bindung zwischen Tier und Mensch – sofern er respektvoll erfolgt.
Fazit: Schur als Verantwortung
Schafe scheren ist mehr als Pflicht. Es ist Teil eines ökologischen, verantwortungsvollen Kreislaufs. Es braucht Geduld, Übung und Wissen – aber auch ein Gefühl für das Tier. In Ostfriesland ist die Schur kein Event. Sie ist Handwerk. Und wie jedes gute Handwerk verdient sie Respekt.